Wolfgang, 44 Jahre (unbekannter Betroffener, 1995)

 

Umarme Deine Ängste - sie geben Dir Kraft

Ein Betroffener zieht Bilanz aus 33 Jahren Angst

 

18 Jahre zurück. In Übersee unterrichte ich Englisch. Es ist kurz vor neun Uhr an einem Freitag morgen. Plötzlich erfaßt mich ein Schwindel und ich glaube, jetzt wird etwas ganz Schreckliches mit mir passieren. Zum Glück ist die Stunde gleich zu Ende, so daß keiner mitbekommt, wie mir der Schweiß aus den Poren schießt. Ich bin fix und fertig, und ich habe Angst, so viel, daß ich glaube, sie wird mich gleich umbringen. Vor jedem Unterrichtsbeginn zittere ich und hoffe, daß ein solcher Anfall nicht wieder auftreten möge. In den nächsten Wochen habe ich Herzklopfen und fühle mich verspannt, plötzlich habe ich Ängste vor Menschenmengen, Geschäften, sogar Bergen. Wenn ich allein bin, fühle ich mich meiner verrückten Situation hilflos ausgeliefert. Ich könnte schreiend davonrennen. Nur wohin?

Ein Jahr später, zurück in Deutschland, suchte ich ärztliche Hilfe. Ein Psychiater zerstreute meine Befürchtung, daß es sich um epileptische Anfälle handeln könnte. Statt dessen bestätigte er mir eine Ahnung, die ich schon lange hegte.


Ein halbes Jahr vor der ersten Angstattacke hatte ich in einem vollbesetzten Restaurant beim Essen mit zwei Bekannten einen Schwächeanfall erlitten. Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen, ich sprang hoch, wollte zum Ausgang und brach zusammen. In diesem Moment hatte ich schreckliche Angst und war mir sicher, sterben zu müssen. Ich verlor aber nicht die Sinne, sondern rappelte mich wieder auf.

Die Sache war bald vergessen, zumal ich sie mir erklären konnte: Ich hatte am Nachmittag die letzte von drei Thyphus-Schutzimpfungen erhalten, dann am Abend mit meinem Chef mehrere Schnäpse gekippt und auf dem Weg zum Restaurant noch kräftig am Marihuana-Joint gezogen.

Doch nach einem halben Jahr holte mich im Klassen­zimmer dieser unverdaute Schock, die nackte Todesangst in jenen Sekunden des Zusamensackens wieder ein und schlug nochmal zu, jetzt aber so kräftig, daß ich nochmal zu Boden ging und seelisch dort auch liegen blieb.

Mittlerweile, das habe ich vor kurzem gelesen, gibt es auch einen Ausdruck dafür: posttraumatische Streßstörung. Menschen leiden nach Unfällen und einschneidenden Erlebnissen darunter..

Jetzt konnte ich immerhin einen Finger auf den Auslöser meiner Angst legen, doch den Ursachen, warum mich dieser Schwächeanfall dermaßen aus der Bahn geworfen hatte, mochte ich nicht nachgehen. Ich studierte, gründete eine Familie und hatte, mal mehr, mal weniger, die Angst im Genick.

Als ich dann meinen Beruf ergriffen hatte, stellte ich besorgt fest, daß mich die Angst immer häufiger beim gemeinschaftlichen Essen mit anderen, hauptsächlich in der Kantine, überfiel. Ich bekam dann einen Schweißausbruch, gewann meine Fassung aber meistens schnell zurück. Und irgendwann begann ich immer weiter abzurutschen. Im Frühjahr 1992 kauften wir uns eine Wohnung. Nach dem Umzug stellte ich fest, daß ich immer unruhiger wurde. War es die Angst vor den Schulden? Ich bekam Angstanfälle beim Fernsehen, am Schreibtisch, beim Überqueren der Straße, hatte Angst vor jedem Menschen, vor Zärtlichkeiten mit meiner Frau, fing an zu stottern, bekam Blackouts beim Denken, hatte Angst vorm Gehen, vorm Autofahren, vor der U-Bahn, vorm Fahrradfahren und war kurz davor, völlig den Halt zu verlieren und abzustürzen.

Das ging über Monate. Ich wurde immer menschenscheuer, hatte zu Hause nur noch schlechte Laune und fuhr beim kleinsten Anlaß aus der Haut. Doch es wurde noch schlimmer. Ich merkte, wie mein Körper unter immer stärkere Anspannung geriet, fühlte das Blut in meinen Schläfen hämmern. Ich war in einen Käfig geraten, dessen Wände sich immer weiter zuzogen und mir immer mehr Freiheit nahmen. Bald würden sie mich erdrücken. Die düsteren Gedanken wurden immer qualvoller.

So schleppte ich mich weiter bis zu jenem denkwürdigen 24. April 1993: An diesem Morgen schien es soweit: Ich glaubte, nicht mehr die Wohnung verlassen zu können. Das wäre, glaube ich, für mich das Ende gewesen Mir eine solche Schwäche einzugestehen, hätte mir den Rest gegeben, und ich hätte mein Gefängnis akzeptiert. Ich legte mich auf den Boden und machte autogenes Training.und was sonst kaum klappte, das gelang an diesem Morgen, wo es anscheinend ums Ganze ging: Ich konnte eine viertel Stunde lang alle Gedanken aus meinem Kopf verbannen, und als ich mich erhob, fühlte ich mich frei. Zum ersten Mal nach langer Zeit fühlte ich mich nahezu unbeschwert, und ich war so "high", daß ich sogar erstmals wieder richtig Spaß an meiner Arbeit hatte. Ich schwor: Von jetzt an soll sich dein Leben ändern, systematisch und planmäßig. Nie wieder darf ich so tief fallen wie in den letzten Wochen.
Es begann eine Zeit hektischer Aktivität. Teil meiner selbstverordneten Therapie war, mich selbst allen möglichen Situationen auszusetzen, die mir Unbehagen einflößten. Ich dachte, wenn ich die nur oft genug trainiere, dann würde sich mein Seelenmuskel wie ein Beinmuskel beim regelmäßigen Laufen stärken, und über kurz oder lang würde ich von meinen Eßängsten befreit werden.

Wenn es doch so leicht wäre. In der Nähe meiner Wohnung gibt es einen Kletterfelsen. Wie oft bin ich dort hoch, stand in 20 Metern Höhe auf der nur einen Quadratmeter großen Spitze. Eine falsche Bewegung und ich wäre unweigerlich in den Tod gestürzt. Das bestandene Abenteuer gab mir Kraft und Vertrauen, doch die Angst beim Essen nahm mir das nicht. Das zweite neue Feld, in dem ich mich selbst übertraf, war die Schauspielerei. Ich ließ keine Gelegenheit aus, mich darin zu profilieren. Erst eine Nebenrolle in einem kurzen Sketch - viel Lob. Dann schrieb ich einen zehnminütigen Sketch und führte ihn mit meiner Frau auf. Die positive Kritik gab mir weiter Auftrieb. Dann spielte ich sogar vor 200 Menschen in einem einstündigen Spiel die Hauptrolle. Das hätte ich mich früher nie getraut. Ich bekam noch mehr Lob. Doch am nächsten Mittag: Kaum habe ich die ersten Salatblätter im Mund, als die schreckliche Angst wieder nach mir greift. Dieses Gefühlswechselbad halte ich nicht länger aus. Ich will, verdammt nochmal, raus aus dieser elenden Scheiße! Wenn das so weitergeht, denke ich, zerreißt es mich. Ich war eine Woche restlos deprimiert, und jetzt endlich reifte in mir der Entschluß, mir Adressen zu besorgen, die mir weiterhelfen konnten. Alleine kam ich nicht mehr weiter. Zunächst probierte ich es bei der Angst-Ambulanz der Uni-Psychiatrie. Der Leiter der Angst-Ambulanz gab mir zu verstehen, daß er mich eigentlich für einen Simulanten hielt. Ich hätte doch eigentlich gar nichts. Zu einem weiteren Termin erschien er nicht. Das war, als ob mir jemand eine schallende Ohrfeige gegeben hätte. Jetzt gab es nur noch eine Stelle, die mir helfen konnte: MASH. Unvergeßlich: An einem Informationsabend im November 1993 erschienen ca. 20 Männer und Frauen, die alle über ihre Angst berichteten. Viele berichteten von jahrelangen Beschwerden, die sie praktisch zum Gefangenen ihrer Wohnung machten, etliche fingen an zu weinen und zu schluchzen. Einer sagte: "Wenn ich doch nur Krebs hätte, darüber könnte ich mit jedem sprechen, aber Angst?" Seither nehme ich jeden Dienstag abend an einer Gruppensitzung teil. Dabei habe ich weitreichende Veränderungen in mir erlebt.


Die folgenden Punkte sind für mich programmatisch und könnten Angstgeplagten Wege aus der Misere aufzeigen.

  • Nicht weiter abkapseln - erst im Schutz und der Solidarität einer Gruppe findet man Trost und dann Kraft zu einem neuen Anfang. Das war für mich eine völlig neue Erfahrung. Bisher hatte ich mich vor meinen Mitmenschen und sogar vor mir selbst versteckt und die Angst nicht zugeben können. Ich erkannte, daß es viele andere Menschen mit diesem Problem gibt. Ich war mit der schrecklichen Angst nicht mehr alleine.

 

  • Ehrlich sein und nicht weiter verstellen: die "Beichte" ablegen. Ich konnte mir meine über lange Jahre angestauten Ängste von der Seele reden. Das ist geradezu ein Befreiungsschlag, der "Wackerstein" fällt von einem ab, man muß sich nicht mehr verstecken. Das fühlt sich an. als ob man von einem bösen Fluch erlöst wird.

 

  • Miteinander reden, reden und noch mal reden: Das ehrliche und offene Gespräch mit Menschen, denen man vertraut, hat bereits heilenden Charakter.

 

  • Weiterbohren: Was will die Angst uns sagen? Mit dem Herz-Ausschütten ist es nicht getan. Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit. Denn die Angst ist ja nicht von alleine entstanden, sie ist ein Signal oder ein Hilfeschrei der Seele. Im Gefühlsleben stimmt etwas nicht. Die Suche nach den Ursachen der Angst ist Sisyphusarbeit. Mit anderen Worten: Wir müssen die in unserem Gefühlsleben verscharrte "Leiche", die unsere Ängste auslöst, aufspüren und anschauen.
    Beim Durchleuchten meines Lebens habe ich erkannt, daß der Angstanfall an jenem Oktober­morgen 1977 nicht wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam, sondern daß es eine Vorgeschichte gibt, die ich eigentlich immer wegdrücken und hinter der Fassade eines welterfahrenen, erfolgreichen Menschen verbergen wollte. Meine Schulzeit war ein Märthyrium, weil ich immer rot anlief, wenn ich etwas sagen sollte. Die Angst, mich zu blamieren und zu versagen, griff später auch auf mein Geschlechtsleben über. Längere Zeit vermied ich alle Intimkontakte. Auf welche Einflüsse und Erlebnisse in meinem Leben mein mangelndes Vertrauen zu Menschen zurückzuführen ist, kann ich noch nicht sagen. Aber jetzt weiß ich immerhin: Ich kann mich ruhig ein wenig mehr lieben und muß nicht immer gleich so kritisch mit mir sein.

 

  • Sich seinen Platz nehmen. Eine meiner wichtigsten Erkenntnisse aus der MASH-Gruppe: Viele Men­schen mit Angst sind zu "außenorientiert". Wir fra­gen nicht, was wir selbst möchten, was uns persön­lich guttut, sondern wir blicken viel zu sehr auf die anderen und fragen. was die wohl von uns wollen. Wir machen allzuoft Dinge, die wir gar nicht machen möchten. Ich bin selbstsüchtiger geworden, gebe nicht mehr klein bei, entwickle eigene Vorstellungen, trage Konflikte mit Kollegen aus, gebe Widerworte -und werde trotzdem mehr geschätzt als früher.

 

  • Mut zu mir selbst: eigene Rolle spielen mit allen Nach- und Vorteilen. Kein anderer Mensch sein wollen, ein besserer, ein schönerer, ein "tollerer", sondern sich selbst akzeptieren.
  • Wenn wir nicht mehr vor uns davonlaufen, kann uns auch nicht mehr die Angst jagen. Wenn wir Mut zur eigenen Person haben, laufen wir vor der Angst nicht mehr davon, weil sie ja ein Teil von uns ist. Dann lassen wir sie auf uns zukommen, setzen uns mit ihr auseinander. Dann verliert sie ihre Gewalt über uns und wir sind frei.

 


Weil ich das erkannt und erlebt habe, bin ich nicht mehr dieser Angst schutzlos ausgeliefert, im Gegenteil: Ich kann wieder ganz normal mit Menschen am Tisch essen. Diese Angst und ihre - teilweise - Bewältigung (manchmal fühle ich noch, wie sie nach mir greift und ich zu flüchten versuche) ist für mich wie ein Neuanfang. Zum ersten Mal in meinem Leben setze ich mich mit meinen Gefühlen auseinander, lasse sie raus. Mit Frau und Kindern kann ich jetzt viel besser Konflikte lösen, und wir haben eine ganz neue emotionale Ebene gefun­den, auf der wir viel rücksichtsvoller, verständnisvoller und liebevoller als vorher miteinander umgehen. Zum ersten Mal im Leben lebe ich richtig mit Spaß. Die Angst hat also völlig neue Wege geöffnet - nach dem Motto: Liebe deine Ängste, sie geben dir Kraft und lassen dich das Leben entdecken!