Sieg durch Niederlage
Masochismus – eine Abwehrstrategie der sozialen Angst ?
Sandra Hlawatsch, Journalistin, März 2015
In seiner Studie Aus Leiden Freuden hat der Psychoanalytiker Theodor Reik den Masochismus als Abwehrmechanismus von sozialer Angst gedeutet – eine spannende These, die ich gerne am Beispiel von F. M. Dostojewskijs Erzählung Aufzeichnungen aus dem Kellerloch vorstellen möchte.
Fjodor M. Dostojewskij (1821-1881) gilt als einer der bedeutendsten russischen Schriftsteller sowie als einer der feinsten „Psychologen“ der Weltliteratur, was er unter anderem in seiner Erzählung Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (1864) unter Beweis gestellt hat. Daraus möchte ich Ihnen zunächst eine kleine Passage nacherzählen:
I
Dostojewskijs (Anti-)Held lebt seit vielen Jahren einsam bis zur Menschenscheu in einer schäbigen Kellerwohnung. Bereits in früher Jugend hat ihn häufig das schmerzliche Gefühl befallen, anders zu sein als seine Altersgenossen. Und auch heute noch schlägt er beschämt vor jedem Menschen die Augen nieder und wird stets von der Angst gequält, auf die anderen lächerlich zu wirken. Zu seinen Mitmenschen hat er ein ambivalentes Verhältnis: Zeitweise stellt er sie weit über sich, um sie dann jedoch wieder zutiefst zu verachten. In seinen Tagträumen wird er ein Held – die anderen liegen vor ihm im Staube und erkennen seine sämtlichen Vollkommenheiten an.
Wenn ihn von Zeit zu Zeit ein unüberwindliches Bedürfnis nach der Gesellschaft von anderen Menschen überkommt, sucht er eine seiner lockeren Bekanntschaften auf. Dabei ist es für ihn durchaus nichts Ungewöhnliches, geschlagene vier Stunden wie ein Narr dazusitzen und … zuzuhören, ohne selbst auch nur einmal den Mund aufzutun. In der Gegenwart anderer Menschen hat er oft genug Schweißausbrüche und fühlt sich einem Schlaganfall nahe.
Eines Tages treibt es ihn zu seinem ehemaligen Schulkameraden Simonow, bei dem soeben noch zwei weitere seiner früheren Mitschüler zu Besuch sind. Aus gegebenem Anlass planen die Herren für einen gemeinsamen Bekannten namens Swerkow ein Abschiedsdiner. Obwohl der Kellerlochmensch die anderen jahrelang gemieden hat, da zwischen ihnen schon immer Feindseligkeit bestand, drängt er sich der Männerrunde ungefragt auf und lädt sich sogar zu dem geplanten Abendessen selbst ein. Er lässt sich nicht einmal dann abschütteln, als die anderen mit ärgerlicher Verwunderung reagieren – im Gegenteil: Er fühlt sich übergangen und gekränkt. Dabei hat er aus den Zuchthausjahren – wie er seine Schulzeit betitelt – keine guten Erinnerungen, denn schon damals war er ein Außenseiter, über den alle gelacht haben. Besonders Swerkow war sein erbittertster Feind, dessen scharfe, selbstsichere Stimme er hasste und dessen Gewandtheit und gute Manieren, die ihn bei den Klassenkameraden beliebt machten. Der Kellerlochmensch wurde regelrecht von Neid gebeutelt, wenn er mitansehen musste, dass so ein Kakerlak solchen Beifall fand.
Als er am nächsten Abend zum Diner erscheint, stellt sich heraus, dass die anderen den Termin um eine Stunde verschoben haben – ohne ihn zu benachrichtigen. Aber auch diese beabsichtigte Unhöflichkeit kann ihn von seinem Vorhaben nicht abschrecken– stattdessen setzt er sich an den ungedeckten Tisch und wartet. Er ist fest davon überzeugt, jetzt erst recht einen Grund zu haben, um auf die anderen wütend zu sein, und träumt davon, sie alle zu besiegen, zu unterwerfen. Insbesondere Swerkow will er ausstechen, der verlegen abseits sitzen soll.
Allerdings braucht dieser Swerkow nur aufzutauchen und er selbst wird verlegen – und als sein Gegner sich auch noch über die Sticheleien erhaben zeigt, wünscht er sich sehnlich, ihm eine Flasche an den Kopf zu werfen. Er ist äußerst gereizt und spart nicht mit Provokationen aller Art, so dass auch die anderen bald nicht mehr ohne Gift sind und ihn ermahnen, die allgemeine Harmonie nicht zu stören. Der Kellerlochmensch setzt aber noch eins drauf, indem er betrunken zu (Un-)Ehren von Swerkow einen Speech hält, der erwartungsgemäß in übelste Beleidigungen ausartet. Selbst dann, als ihn die anderen mit Missachtung strafen und wie Luft behandeln, kann er sich nicht dazu entschließen zu gehen, sondern bleibt zum Trotz und versucht, ihre Aufmerksamkeit gewaltsam zu erzwingen:
Drei Stunden lang marschiert er ununterbrochen in der anderen Hälfte des Zimmers auf und ab und poltert dabei laut mit den Stiefeln. Schließlich fühlt er sich dermaßen zerquält, dermaßen zermartert, dass er auf einmal vor den anderen zerknirscht Reue bekennt und um ihre Freundschaft bettelt. Doch die Männer beeilen sich, ohne seine Begleitung ins Nachtleben aufzubrechen – und so steht er letzten Endes da wie angespuckt.
alle Zitate (kursiv) aus:
Fjodor M. Dostojewskij:
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch.
Frankfurt/Main 2006.
II
Womöglich werden Sie sich jetzt an die Stirn schlagen und unter Kopfschütteln rufen: Unglaublich, was für eine Type! Nachdenklich macht an Dostojewskijs Kellerlochmensch aber vor allem die ungewöhnliche Mischung aus zwei konträren Charakterzügen, die auf den ersten Blick nicht so recht zusammenpassen: Einerseits zeigt er unverkennbar eine menschenscheue, ja sozialphobische Lebensweise, andererseits verfällt er zeitweise ins Gegenextrem und drängt sich regelrecht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – noch dazu mit einem unangepassten, um nicht zu sagen unverschämten Verhalten.
Die für SozialphobikerInnen charakteristische Angst vor einer negativen Bewertung durch die Mitmenschen schlägt bei Dostojewskijs Figur in ein zwanghaftes Aufsuchen von selbst inszenierten Peinlichkeiten um – nach dem Motto: Bevor mich die anderen blamieren, mache ich mich lieber selbst zum Affen! Dabei ist nicht zu übersehen, dass diese Art der Vorwärtsvermeidung mit unterschwelligen Aggressionen verbunden ist, die sich als Demütigungen und Quälereien an der eigenen Person entladen – kurz gesagt: Das soziale Interaktionsmuster des Kellerlochmenschen trägt deutlich eine masochistische Färbung.
Sozialer Masochismus
In seiner Studie Aus Leiden Freuden (1941) hat der Psychoanalytiker TheodorReik (1888-1969) den Masochismus als psychischen Abwehrmechanismus von sozialer Angst interpretiert. Was ist unter „Masochismus“ zu verstehen?
Das Verständnis von Masochismus hat im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte eine erhebliche Wandlung erfahren. Ursprünglich wurde der Begriff um 1890 von dem Psychiater und Gerichtsmediziner Richard von Krafft-Ebing eingeführt. Inzwischen hat sich eine grundlegende Unterscheidung zwischen einer sexuellen und einer nicht-sexuellen Variante durchgesetzt, die auf psychoanalytische Untersuchungen von Sigmund Freud zurückgeht: Im engeren Sinn bezeichnet Masochismus eine sexuelle Spielart, bei der sexuelle Lust und Befriedigung durch eine devote Haltung gegenüber dem Partner erlangt werden – dazu gehört unter anderem das Hinnehmen von Schmerz und Erniedrigung.
Der vorliegende Artikel setzt sich mit dem Masochismus in seiner erweiterten, desexualisierten Bedeutung auseinander: Es handelt sich dabei um ein seelisches bzw. psychisches Phänomen, das sich vorrangig auf die alltägliche, zwischenmenschliche Interaktion auswirkt und daher von gesellschaftlicher Relevanz ist. Reik hat diesen so genannten „Alltagsmasochismus“ entsprechend als „sozialen Masochismus“ bezeichnet und meint damit eine besondere Art der Lebenseinstellung oder des sozialen Verhaltens, welche das eigene Leiden oder die eigene Ohnmacht anstrebt – sozusagen eine „Leidenssucht“.
So weit, so gut – doch was soll Masochismus nun mit der Sozialen Phobie zu tun haben? Wie bereits erwähnt, hat Reik den Masochismus als einen unbewussten Mechanismus zur Abwehr von Angst gedeutet: Im speziellen Fall des sozialen Masochismus ist die Angst, wie es die Bezeichnung ja vorwegnimmt, von sozialer Natur, d.h. die Angst des (sozialen) Masochisten richtet sich auf die Vernichtung und Ausstoßung aus der menschlichen Gemeinschaft. Ein potentieller Ausweg, um die soziale Angst loszuwerden, bietet sich nach Reik darin an, sich freiwillig bestimmten Strafen und Erniedrigungen zu unterwerfen – nach der Devise: Wenn ich genügend leide, muss ich zumindest weniger Angst haben. Das klingt für Sie paradox? Dann lassen Sie uns das Gewirr im Kopf gemeinsam entknoten:
Selbstwert-Problematik
Für die masochistische Charakterstruktur ist ein geringes Selbstwertgefühl kennzeichnend, mit dem auch der Kellerlochmensch permanent zu kämpfen hat: Über sich selbst empfindet er tiefe Scham, die zeitweilig in rigorose Verachtung seiner Mitmenschen kippt. Da sein „Ich“ brüchig ist, vermag er einem „Du“ nicht auf gleicher Ebene zu begegnen – stattdessen ist seine Welt streng hierarchisch organisiert: Es existieren lediglich „oben“ (herrschen) und „unten“ (beherrscht werden). Da der Selbstwert des Masochisten (ähnlich wie das Wohnquartier von Dostojewskijs Protagonisten) buchstäblich „im Keller“ ist, fehlt ihm jeder gesunde Egoismus: Er darf sich (auch konstruktive) Aggressionen nicht erlauben, ist gehemmt, traut sich nicht „zuzugreifen“ und versagt sich grundsätzlich die Erfüllung seiner Wünsche – egal, ob es sich um beruflichen Erfolg oder privates Glück handelt. Dies macht er aber nicht deshalb, weil er wirklich leiden will – vielmehr zwingt ihn dazu die Befürchtung, dass „etwas ganz Schlimmes“ passieren wird, wenn er es wagen sollte, sich etwas Gutes zu gönnen.
Strafangst
Aus psychoanalytischer Perspektive resultiert diese auf die Ich-Potenz (verstanden als Kraft zur Selbstentfaltung) bezogene Strafangst vor allem aus einem übertrieben strengen und wenig liebevollen Erziehungsstil:Indem das Kind immer wieder (nicht zwingend durch Worte) signalisiert bekommt, dass es für die Eltern nicht gut genug oder einfach bedeutungslos ist, macht es einen vermeintlichen „Defekt“ an sich selbst dafür verantwortlich. Aufgrund seiner naturgemäßen Abhängigkeit istdas Kind in diesem Alter (noch) nicht dazu imstande, die Eltern in Frage zu stellen. Stattdessen entwickelt eszunehmend ein Schuld- bzw. Schamgefühl („Ich mache alles falsch“ bzw. „Ich bin falsch“) – unbewusst setzt sich die Überzeugung fest, eine liebevolle Zuneigung überhaupt nicht zu verdienen. Während in den Kinderjahren als Strafe für das Nicht-Genügen oder Defekt-Sein der Verlust der elterlichen Liebe (bzw. der Nestwärme) droht, wird diese Straferwartung später im Erwachsenenalter ersatzweise auf die Gesellschaft übertragen – und äußert sich als soziale Angst. Die ursprünglich äußere, durch die Eltern an das Kind herangetragene Haltung ist somit verinnerlicht worden und regiert nun wie ein „unbarmherziger, innerer Richter“, der dem masochistischen „Ich“ bei der Durchsetzung seiner persönlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse im Wege steht, denn:
Eine verweigerte Anpassung (dazu zählt unter anderem auch das Stellen von individuellen Ansprüchen und Forderungen) könnte den endgültigen Ausschluss aus dem Kollektiv bedeuten. Als Folge davon bestehen enorme Schwierigkeiten, sich gegen fremde Ansprüche zu behaupten und eigene Bedürfnisse durchzusetzen – für SozialphobikerInnen (aber auch für andere „Traumatisierte“) eine zentrale Thematik. So begnügt sich der Kellerlochmensch trotz seiner Begabung mit einer beruflichen Stellung, die weder befriedigend ist noch gut bezahlt wird.
Listiges Tauschgeschäft
Insofern dem Masochisten der geradlinige Weg zur Durchsetzung seines (Macht-)Willens versperrt ist, sucht er ihn auf einem Umweg zu erreichen, das bedeutet: Erst wenn er ausreichend gelitten und dadurch seinem Schuldgefühl („Ich bin es nicht wert“) genüge getan hat, wird es ihm möglich, sich – von seiner (sozialen) Angst vorübergehend befreit – ein bisschen Erfolg oder Glück zuzugestehen. Somit hat sich die anfängliche Strafangst schließlich in ein Strafverlangen verdreht: Die Benachteiligungen, Kränkungen sowie Selbstschädigungen können als unbewusst selbst auferlegte Opfer oder Bußeaktionen für die ihnen folgende Durchsetzung sonst verbotener Wünsche gedeutet werden – mit anderen Worten: Das masochistische Grundprinzip gleicht einem „Tauschgeschäft“ bzw. einem „Bestechungsversuch“ bei dem – ähnlich wie auch bei anderen Angstneurosen (so z.B. bei der Zwangserkrankung) – viele Beschwerlichkeiten und Entbehrungen in Kauf genommen werden, um einen Angstausbruch zu vermeiden. Viel Leid und Unglück, das dem Masochisten – wie es scheint – schicksalhaft widerfährt, kommt letztlich von innen und wurde unwissentlich selbst veranlasst. So trägt auch das unmanierliche Benehmen des Kellerlochmenschen wesentlich dazu bei, dass seine Kontaktversuche einem Kreuzweg gleichkommen. Doch der masochistische „Tauschhandel“ (Leiden gegen Angst) verbirgt eine List: Indem der Masochist sich der Strafe „freiwillig“ ausliefert oder sie sogar selbst herbeiführt, gelingt es ihm, das Geschehen unter seiner eigenen Kontrolle zu behalten – auch wenn er es in der passiven Rolle über sich ergehen lässt. Und: Kontrolle haben, bedeutet Macht haben.
Das Opfer als Nutznießer
In dieser Hinsicht ist unter einem Masochisten (im Unterschied zum allgemeinen Verständnis) kein Opfer zu verstehen – oder zumindest kein „echtes“ Opfer. Im Gegenteil: Er wird unter dem Deckmantel des unschuldig Leidenden oftmals selbst zum Täter, denn: Durch die erduldeten Qualen hat er das innere Recht gewonnen, seinen (Macht-)Willen durchzusetzen und zur Rache überzugehen. Es ist demnach nur bedingt korrekt zu behaupten, der Masochist genieße seine Leiden. Vielmehr bestraft er sich selbst oder lässt sich von der Gesellschaft durch Verachtung und schlechte Behandlung bestrafen, um im Verborgenen einen Nutzen daraus zu ziehen: Er (miss)braucht sein Opfertu zum Beweis seiner eigenen moralischen Überlegenheit und poliert seinen geringen Selbstwert damit auf („Was muss ich Ärmste/r bloß alles ertragen!“). Ähnlich versteht es auch der Kellerlochmensch nur zu gut, seine soziale Isolierung zum Symptom der B e s o n d e r- h e i t umzustilisieren („Nicht ich, sondern die anderen sind zu bemitleiden, weil sie meinen Wert nicht erkannt haben!“). In seinen Phantasien malt er sich in den buntesten Farben aus, dass er irgendwann doch noch von der Gesellschaft anerkannt werden wird, die ihn jetzt vernachlässigt und verwirft. Darüber hinaus gebärdet sich der Masochist mit Vorliebe wie ein Schauspieler seines Elends und weckt dadurch in seinen Mitmenschen Schuld- und Mitleid- regungen, die sie für ihn leichter manipulier- und beherrschbar machen. So weiß auch die Männerrunde bei Dostojewskij den Aufdringlichkeiten und Unverschämtheiten des Kellerlochmenschen außer Verhöhnung und Missachtung kaum etwas entgegenzusetzen, da er sie mit Hilfe ihres schlechten Gewissens für die früheren Spötteleien geschickt in Schach hält.
Da der Masochist (im Unterschied zum Sadisten) nicht offen aggressiv sein kann, ist er darauf angewiesen, seine Umgebung dazu zu verführen, ihn zum Opfer zu machen. Wie es der Kellerlochmensch in allen erdenklichen Variationen vorführt, kann er notfalls auch massive Provokationen aufbieten, um die anderen dorthin zu bekommen, wo er sie (miss)braucht – nämlich: in der Rolle des Täters. Zwar ist die Blamage auf seiner Seite, doch bedient er sich der anderen als Werkzeuge seiner Erniedrigung. Er macht sie deshalb zu seinen „Henkern“, um sich über sie erhaben zu fühlen. Die masochistische Macht ist subversiv – sie wirkt aus dem Verborgenen, aus dem Kellerloch. Aber wir müssen gar nicht so tief in die masochistische Mentalität eintauchen, um ihre Spuren im sozialphobischen Verhaltensrepertoire wiederzuerkennen: Welche/r SozialphobikerIn kennt nicht dieses „Gefängnis im Kopf“, d.h. den Zwang nach (über)kritischer Selbstbeobachtung und gnadenloser Selbstverurteilung – was für ein selbstquälerischer Akt! Und dann erst die endlosen Erinnerungsschlaufen an (vermeintlich) peinliche Situationen, die einem tage- und wochenlang immer wieder bis ins kleinste Detail vor dem geistigen Auge vorüberziehen und einen mit Schauern von Scham überschütten („Als ich ihn damals angesprochen habe, bin ich rot geworden wie eine Tomate, dann habe ich mich mitten im Satz verhaspelt … und auf meiner Bluse war auch noch ein riesiger Fleck…“ usw.). Ich denke, es ist unverkennbar, dass Angst (haben) und Leiden (machen) sich oft wechselseitig bedingen.
Prinzip des „Aufschubs“
In der Gestalt seines Kellerlochmenschen hat Dostojewskij literarisch eine Lebens- und Verhaltensweise vorweggenommen, die Reik viele Jahre später aus psychoanalytischer Perspektive als „sozialen Masochismus“ bestimmt hat. Da Reik die Aufzeichnungen nachweislich gekannt hat, liegt natürlich die Vermutung nahe, dass Dostojewskijs Erzählung einen wesentlichen Einfluss auf seine Theoriebildung gehabt haben könnte. Zwar mag die Figur mitsamt ihren „Macken“ beinahe schon zu einer Karikatur überzeichnet sein –und doch bringt sie meiner Meinung nach die Verbindungsfäden zwischen Sozialer Phobie und Masochismus recht genau auf den Punkt. Viel häufiger als die bei Dostojewskij vorgeführte Abwehrmethode einer „Flucht nach vorn“ dürfte bei der Sozialen Phobie das masochistische Prinzip des „Aufschubs“ vorkommen. Ich denke dabei in erster Linie an den (un)freiwilligen Verzicht, den sich viele SozialphobikerInnen im Leben selbst auferlegen: „man“ überlässt selbstverständlich einem anderen den freien Platz im Bus, „man“ entscheidet sich nicht für die schöne Altbauwohnung mit Balkon, „man“ begnügt sich mit einer unbefriedigenden Arbeit, „man“ verschenkt sich an lieblose PartnerInnen – oder „man“ lässt sogar irgendein besonderes Talent brachliegen. Dabei hat „man“ für alles natürlich stets eine logische Erklärung parat: die anderen haben es viel notwendiger, es ist viel zu teuer, später ist dafür ja auch noch Zeit … und überhaupt!
Heimlicher Triumph
Vor allem aber, und das ist für mich die Quintessenz, ermöglicht es (auch) der Verzicht, das Geschehen selbst in der Hand zu (be)halten – sprich: die Macht. Eine alternative Version von Dostojewskijs Aufzeichnungen, in der Sie sich selbst vielleicht schon eher wiedererkennen, könnte demnach wie folgt aussehen: Aus Angst vor der Begegnung mit Fremden lehnt der Kellerlochmensch eine Essenseinladung von Freunden unter einem Vorwand ab. Zu gegebener Zeit sitzt er dann in seinem einsamen Quartier und kann nicht davon ablassen, sich immer wieder vorzustellen, wie die anderen nun in gemütlicher Runde beisammen sitzen und sich amüsieren. Dabei wälzt er sich im Selbstmitleid, denn natürlich wäre auch er gerne mit von der Partie gewesen – doch er tröstet sich mit dem Gedanken: „Zwar sitze ich hier nun alleine. Dies aber zumindest deshalb, weil ich selbst es so gewollt habe – und nicht, weil mich die anderen verstoßen hätten.“ Zwischen den Klagelauten klingt nach masochistischer Manier ein Unterton verborgenen Stolzes, ja Triumphs durch – eben: Sieg durch Niederlage.
alle Zitate (kursiv) aus:
Theodor Reik:
Aus Leiden Freuden.
Masochismus und Gesellschaft (1941).
Hamburg 1977.
Theodor Reik:
Aus Leiden Freuden.
Masochismus und Gesellschaft (1941).
Hamburg 1977.