Paruresis und Soziale Phobie - auch eine Frage gesellschaftlicher Normen
Autor: J.P. Wolters, Fach-Autor zu Themen Sozialer Phobie, 2015
„Komm und spiel mit mir!“ schlägt der kleine Prinz dem Fuchs in der gleichnamigen Erzählung von Antoine de Saint-Exupéry vor. „Ich kann noch nicht mit dir spielen“ antwortet der Fuchs und erklärt dem kleinen Prinzen, dass er etwas mehr Zeit brauchen wird, damit sich die beiden Schritt für Schritt miteinander vertraut machen können. Er ist sich der Scheu, welche ihn bei neuen Begegnungen zu einer Vorsicht sensibilisiert, durchaus bewusst.
Diese kleine Metapher soll anregen, die für Betroffene leidvolle Problematik der Paruresis einmal aus einem ergänzenden Blickwinkel zu betrachten und hieraus eine Parallele zwischen Paruresis und Sozialer Phobie abzuleiten, unabhängig von der Frage der Zuordnung von Paruresis zum Krankheitsbild Soziale Phobie.
Es folgt zunächst ein geschichtlicher und kultureller Ausflug zu den unterschiedlichen Lösungen öffentlicher Toiletten.
Bereits am Anfang unserer Zeitrechnung sitzen im alten Rom bis zu 80 Personen unterschiedlichen Geschlechtes auf steinernen Latrinen nebeneinander. Der Toilettengang war in dieser Zeit scheinbar kaum schambelastet, man unterhielt sich, verhandelte über Geschäfte.
Die gesellige Toilettenkultur dauert etwa bis ins Spät-Mittelalter an. Um 1800 entwickelt sich in Europa dann vermehrt das Bedürfnis, seine Notdurft auch verdeckt verrichten zu können und den Körper nicht in der Öffentlichkeit entblößen zu müssen. Mit diesem Wunsch werden neue Formen von Toiletten entwickelt. Das steigende Schamgefühl geht hier scheinbar Hand in Hand mit dem gesellschaftlichen Normverständnis; höhere Schichten machen den Anfang bei der Integration der neuen Intimsphäre.
Heute sehen wir deutliche kulturelle Unterschiede bei der Nutzung öffentlicher Toiletten. In China z. B. erinnert die Situation fast an das Bild des alten Roms; hier hockt man sich nebeneinander über Stehtoiletten, zwischen denen sich nur selten Trennwände oder Kabinen finden.
Gleichzeitig verrichten japanische Frauen ihr Geschäft lieber unter Benutzung der sogenannten „Geräuschprinzessin“, einem über dem Spülkasten installierten Lautsprecher, der laute Wassergeräusche abspielt. Sehr groß wäre die Scham, die Nachbarin würde das Plätschern des Urins oder sogar mehr hören.
In starkem Kontrast stehen hierzu Situation und Maßstäbe des Schamempfindens, wenn sich junge Frauen auf deutschen Musik-Festivals mit einer Urinella, einem speziellen Einwegtrichter, vor einem öffentlichen Urinal stehend erleichtern.
Die Japanerin erlebt sich bei der Benutzung der Geräuschprinzessin im Konsens mit den vorherrschenden Normen ihrer Umgebung. In Deutschland hingegen könnte das Fehlen der gewohnten Geräuschkulisse bei der Japanerin starke Scham auslösen, da das gewohnte Hilfsmittel fehlt, welches die für sie so wichtige „akustische“ Intimsphäre schafft. Dadurch könnten sich mit höherer Wahrscheinlichkeit Züge einer Paruresis entwickeln mit Angst vor der peinlichen Situation, Vermeidung öffentlicher Toiletten und Störung der Blasenentleerung.
Das grundlegende Schamempfinden der Japanerin hat sich in Deutschland nicht geändert, sehr wohl aber ihr Umfeld. Bei dieser Frau könnte der im Sinne einer praktischen Lösung gut gemeinte Ratschlag „Lass es plätschern!“ den eigentlichen Kern ihrer Beschwerden verfehlen und für Befremden und Unverständnis sorgen können.
Stellt man sich den Besuch einer öffentlichen Toilette in China vor, so werden diese Hemmungen auch für uns wohl schnell nachvollziehbar.
An dieser Stelle kann der scheue Fuchs wieder ins Spiel kommen, der dem kleinen Prinzen mit Selbstverständlichkeit seinen persönlichen Maßstab einer schrittweisen Öffnung auf einen anderen Menschen vorgibt, eben den eines scheuen Wesens. Somit ist der Fuchs, trotz aller Scheue/ Schüchternheit, weit weg von einer Sozialen Angststörung mit Vermeidung und Selbstwertproblematik. Er stellt sich in diesem Punkte weder selbst in Frage, noch befasst er sich allgemein mit Fragen, wie extravertiert, unterhaltsam oder gelassen jemand sein sollte.
Als Parallele zur Sozialen Angststörung zeigt sich bei der Paruresis zumindest sehr häufig auch ein ausgeprägter Zwiespalt zwischen den persönlichen Maßstäben von Stimmigkeit, Intimität, Schamempfinden und den Maßstäben einer Bevölkerungsmehrheit, welche Ausdruck im baulichen Konzept öffentlicher Toiletten finden.
Es stellt sich also die Frage, in wie weit ein grundlegender Normen-Konflikt auf das Problemfeld bis Krankheitsbild der Paruresis einwirkt. Denn schämt sich der Betroffene für seine Scham, kann hierdurch ein weiterer negativer Verstärker entstehen. So wird die Überzeugung genährt, anders und falsch zu sein, was das Leiden, die Vermeidungstendenz und dadurch auch die Wahrscheinlichkeit einer Blasenentleerungsstörung in einer Aufwärtsspirale erhöht.
Dabei macht sich der Scham-Stress individuell an unterschiedlichen, befürchteten Szenarien fest, z.B. an der akustischen Wahrnehmung, oder nicht ungestört zu sein durch wartende Andere, beobachtet zu werden bei zögerlicher Blasenentleerung und ähnlichem mehr.
Grundsätzlich hat das Empfinden von Scham - in guten Grenzen - unverzichtbare, wichtige Funktionen im zwischenmenschlichen Miteinander. Es ist essenziell für die eigene Abgrenzung, Persönlichkeitsbildung und Identitätsfindung und daher auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausgerichtet.
Dem Fuchs und dem durch ihn vertretenen scheuen Menschen im gesellschaftlichen Konsens ein grundsätzliches Recht auf sein Sosein in Selbstverständlichkeit zuzubilligen, ist ebenso wichtig, wie einem scheuen Menschen sein Recht auf Abgrenzung und Intimität im öffentlichen Toilettenbereich grundsätzlich zuzugestehen und somit dessen Persönlichkeit bedingungslos anzuerkennen. Denn dies kann zu einer Deeskalation und auch Entpathologisierung beitragen und den angesprochenen Normen-Konflikt in seinen Auswirkungen entschärfen.
Wenn der in öffentlichen Toiletten von Scham Belastete seine Empfindungen als stimmig erleben darf, kann dies parallel einen positiven Prozess in Gang setzen.
Selbstverständlich ist es dennoch notwendig, sich in einem zweiten Schritt ohne weitere Selbstinfragestellung konkret und ganz praktisch mit der Situation öffentlicher Toiletten im Sinne einer Weitung der eigenen Möglichkeiten auseinanderzusetzen und Wege zu finden, mit den Gegebenheiten besser zurecht zu kommen.
Psychotherapeutische Konzepte bei Sozialer Phobie und Paruresis können sicher hilfreich sein, und dies möglicherweise umso mehr, wenn sie zu Beginn einen Beitrag leisten, den Betroffenen in seinem Sosein und seinen Empfindungen vor sich selbst zu rehabilitieren.
(Zumindest in der Theorie wären auch bauliche Entgegenkommen denkbar mit mehr Intimität bei öffentlichen Toiletten durch Doppeltüren, Musikbeschallung u.a.m.. Eine Handy-App mit Geräuschprinzessin-Funktion könnte es wohl schon geben.)
Erschienen in der Deutschen Angst-Zeitschrift Nr. 69, März 2015